Feind Kurden: Gibt die NATO-Türkei der Terrormiliz IS freie Hand?

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Der syrische IS-Kritiker Nadschi al-Dscherf war am Sonntag (27. Dezember 2015) in der Türkei auf offener Straße erschossen worden, der zweifache Familienvater Dscherf (hier mit seiner Tochter) hatte in der Türkei Schutz vor dem IS gesucht. Die Türkei gewährt dem IS offenbar jedoch freie Hand - wegen des gemeinsamen Feindes, den Kurden. (Foto: Youtube)
Der syrische IS-Kritiker Nadschi al-Dscherf war am Sonntag (27. Dezember 2015) in der Türkei auf offener Straße erschossen worden, der zweifache Familienvater Dscherf (hier mit seiner Tochter) hatte in der Türkei Schutz vor dem IS gesucht. Die Türkei gewährt dem IS offenbar jedoch freie Hand – wegen des gemeinsamen Feindes, den Kurden. (Foto: Youtube/euronews deutsch)

Das NATO-Mitgliedsland Türkei und die Terrormiliz Islamischer Staat kämpfen gegen einen gemeinsamen Feind: die Kurden. Dabei sind die Kurden die wichtigsten Alliierten des Westens gegen den IS, sie erhalten Waffen und Unterstützung, auch von der deutschen Bundeswehr.

In seiner Neujahrsansprache drohte der türkische Staatspräsident  Recep Tayyip Erdogan, die Untergrundorganisation und sozialistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans PKK „bis zum Ende“ zu bekämpfen: „Unsere Sicherheitskräfte säubern die Städte Meter um Meter von den Terroristen.“

Seit rund zwei Wochen gehen Sicherheitskräfte in einer Großoffensive gegen die Organisation im Südosten der Türkei vor. Schlimmer Nebeneffekt: Die Türkei gibt dabei der Terrormiliz IS offenbar freie Hand, in die Türkei geflüchtete Kurden und IS-Gegner unbehelligt zu verfolgen und auf türkischem Staatsboden ungesühnt zu morden.

 

Seit Monaten hatte der IS Jagd auf den syrischen Journalisten Nadschi al-Dscherf gemacht. Der floh, wie viele andere Syrer auch, in die Türkei und wähnte sich vor den IS-Terroristen einigermaßen sicher. Er wollte mit seiner Familie nach Paris weiterreisen, hatte sich schon ein Asyl-Visum für Frankreich besorgt.

Doch, wie die türkische Nachrichtenseite „T24“ berichtete, sei Dscherf am 27. Dezember 2015 in der südtürkischen Stadt Gaziantep  auf offener Straße von einer Kugel im Kopf getroffen worden und im Krankenhaus gestorben. Angehörige warfen dem IS vor, hinter dem Anschlag auf den Filmemacher zu stecken. Die Polizei habe Ermittlungen eingeleitet. Der IS, als dessen türkische Hochburg die Stadt Gaziantep gilt, soll sich nach Angaben des TV-Senders Al-Hadath zu dem Mord bekannt haben.

Türkischen Medienberichten zufolge arbeitete der 37-Jährige gerade an einem Dokumentarfilm über die Massaker des IS. Der zweifache Vater hatte bereits mehrere Filme über den Syrienkonflikt gedreht.

Dscherf arbeitete auch mit der Gruppe RBSS (Raqa is Being Slaughtered Silently, zu deutsch: Rakka wird still abgeschlachtet) zusammen, einer Gruppe von Bürgerjournalisten, die seit April 2014 heimlich Menschenrechtsverletzungen in der syrischen IS-Hochburg Rakka dokumentiert.

Al-Dscherf war Herausgeber des Monatsmagazins „Hentah“, das in Syrien erscheint. Zuletzt hatte er einen Film produziert, der Gräueltaten der Terrormiliz Islamischer Staat in der nordsyrischen Stadt Aleppo zeigt.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein syrischer Oppositioneller in der Türkei getötet wurde. Inzwischen ist Dscherf der fünfte prominente IS-Gegner, der in der Türkei von den Dschihadisten ermordet wurde.

Am 17. Oktober 2014 kam die iranischstämmige US-Journalistin Serena Shim nahe der türkischen Stadt Suruc ums Leben, als ihr Wagen von einem Betonlaster gerammt wurde. Sie hatte für den iranischen Sender Press TV recherchiert, wie IS-Kämpfer, getarnt als Mitarbeiter türkischer Hilfsorganisationen, über die Grenze ins syrische Kobani gelangten. Nach eigenen Angaben war sie kurz vor ihrem Tod vom türkischen Geheimdienst bedroht worden.

Am 17. Oktober 2015 wurde die britische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Jacky Sutton, an ihren Schnürsenkeln erhängt, in einer Toilette des Istanbuler Atatürk-Flughafens aufgefunden. Sie wollte in den Nordirak weiterfliegen, wo sie für das britische »Institut für Kriegs- und Friedensberichterstattung« (IWPR) irakische Journalisten ausbildete. Freunde und Kollegen bezweifelten die von türkischen Behörden verbreitete Selbstmordthese. In von den britischen Zeitungen Times und Daily Telegraph veröffentlichten E-Mails an eine Freundin hatte Sutton kurz vor ihrem Tod ihre Sorge darüber geäußert, einem Mordanschlag des IS zum Opfer zu fallen.

Ende Oktober hatten IS-Attentäter die beiden syrischen Journalisten Ibrahim Abdulkadir (Chefredakteur der arabischsprachigen Zeitung Ayn Vatan) und Firaz Hamadi (Reporter von Ayn Vatan) in der südtürkischen Stadt Sanliurfa enthauptet. Im Internet veröffentlichten die Dschihadisten Bilder ihrer Leichen – als Warnung an ihre Gegner.

Sie hatten ebenfalls mit der Anti-IS-Gruppe »Rakka wird still abgeschlachtet« zusammengearbeitet. Der Doppelmord weist zwar alle Merkmale eines IS-Attentats auf. Bei allen nicht restlos geklärten Todesfällen dieser Art ist aber auch eine Verstrickung von Geheimdiensten wahrscheinlich, schreibt die Junge Welt. Womöglich sollten Enthüllungen über eine Unterstützung türkischer Behörden für den IS etwa beim Ölschmuggel verhindert werden.

Die türkischen Behörden haben bislang in keinem Mordfall Verdächtige gefasst, berichtete ebenfalls diese Woche der SPIEGEL.

Stattdessen konzentriert sich die türkische Regierung im Südosten des Landes auf ihren Kampf gegen kurdische Selbstbestimmung. Allein in den vergangenen beiden Wochen sind bei Gefechten mindestens 200 Menschen ums Leben gekommen. Nach Darstellung der Regierung in Ankara handelt es sich bei den Toten um Kämpfer der verbotenen PKK, Augenzeugen vor Ort sprechen hingegen von vielen zivilen Opfern. Zehntausende Menschen sind in dem Nato-Land vor Kämpfen auf der Flucht.

Morgen Demo in Berlin

Morgen gibt es um 14 Uhr am Wittenbergplatz in Berlin Schöneberg eine Demo gegen die Staatspolitik der Türkei (Foto: Kurdistan Solidaritätskomitee Berlin)
Morgen gibt es um 14 Uhr am Wittenbergplatz in Berlin Schöneberg eine Demo gegen die Staatspolitik der Türkei (Foto: Kurdistan Solidaritätskomitee Berlin)

Ein neu gegründetes Berliner Aktionsbündnis ruft deshalb für den 2. Januar 2016 zu einer Demonstration auf. Motto: „Stoppt den Staatsterror Erdogans gegen die Kurden“.

Treffpunkt ist um 14 Uhr auf dem Wittenbergplatz in Schöneberg. Die Demonstration geht über den Kurfürstendamm (Wilmersdorf, Charlottenburg) zum Adenauerplatz (Charlottenburg).

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